Es lebte sich schwer im Schatten dieser Burg

 

 

Ein Erlebnisbericht über die Geschehnisse in und um Prettin und der Lichtenburg 1945 kurz vor und nach der Besetzung des Ortes durch die Rote Armee.

 

Christa K. geb. 1923, lebte mit ihrer Familie unmittelbar in der Nähe der Lichtenburg in Prettin auf einem Bauernhof. Dies waren ihre Erinnerungen an diese Zeit:

 

Wir hatten am Sonntag nach Hitlers Geburtstag auf Geheiss des Prettiner Stadtkommandanten Koch mit 3 Gespannen unser Gehöft in Lichtenburg verlassen, und uns in die Flüchtlingsschlange Richtung Elbe eingereiht. Dort hatte die Wehrmacht eine Pontonbrücke errichtet, über die nun die zigtausend Flüchtlinge westwärts strebten. Das Ziel war die Mulde.

Am 25.04.1945 hatten sich 20 km elbaufwärts von Prettin auf einer Elbwiese vor Torgau die Westalliierten mit der Sowjetarmee getroffen.

Mit Rücksicht auf die 6 Pferde und die verstopften Straßen ging es nur langsam voran. Immermehr erschöpfte Prettiner, die mit Handwagen unterwegs waren, baten, von uns ins Schlepptau genommen zu werden. Die Handwagen wurden angehängt, 6 an jedem der 3 Wagen. Die Erwachsenen mußten laufen, die Kinder kamen auf unsere Wagen. Da das Pferdefutter täglich weniger wurde, ging das. Als wir Söllichau erreichten, hieß es: Übertritt über die Mulde nur mit Handgepäck. Das kam für uns wegen der Pferde nicht in Frage. Sie waren für uns nicht nur Nutztiere, sondern auch Hausgenossen.

Als Amerikaner und Russen gemeinsam auf Panzern sitzend Söllichau durchfuhren, war allen klar, dieses Gebiet würde russisch. Die Rückfahrt begann. Wir kamen bis Trossin, und durften beim Bauern Hildebrand Quartier nehmen. Mein Vater schlief bei den Pferden in der Scheune, meine Mutter, meine Schwester und ich schliefen in einem Bett im Haus.

Dann zogen russische Truppen durch Trossin. Sie waren vom Kampf um Berlin abgezogen worden, und sollten in Tschechien den letzten deutschen Widerstand (SS – Truppe Schörner) bekämpfen. Immer wenn die Kolonne stockte, sprangen die Soldaten von ihren Fahrzeugen, drangen in die Häuser und Gehöfte ein, um zu plündern.

Unsere 6 Pferde wurden innerhalb von 1 Stunde abgeführt. Nur das Fohlen und die Ackerwagen blieben zurück. Meine Schwester und ich schliefen im Wald, da immer noch Truppen durchzogen, und ihr Unwesen trieben. An einem Montag gingen Liesbeth Henze und unsere Bäckerfrau Else Wiegand zu Fuß nach Hause. Sie kamen zurück, um ihre Handwagen zu holen und ich schloß mich ihnen mit dem Käte-Kruse-Puppenkarton unterm Arm an. Wir erreichten Lichtenburg vor der Ausgangssperre, also vor 19 Uhr. Vorsichtshalber sollte ich wegen der aus der Lichtenburg ausströmenden sowjetischen Soldaten mit nach Hintersee gehen. Als aber unser Hund Rolli, der am Hoftor saß, auf mich zugesprungen kam, folgte ich ihm ins Haus.

Es folgten furchtbare Wochen. Wir schliefen in der Kleidung, um jeder Zeit über unsere Fluchtwege unseren Schlupfwinkel erreichen zu können. Stets hat unsere Mutter, ohne Gebiß, mit hängendem Zopf und auf schlampig gemacht, sich den eingedrungenen Russen entgegengestellt, herumgekeifert und uns so genügend Zeit zur Flucht verschafft. Dadurch gehörten wir zu den glücklichen, die diese Zeit ohne Vergewaltigung überstanden haben. Diese schlimme Zeit dauerte bis Ende Mai 1945. Dann plötzlich kam ein Aufbruch. Die Sowjets verließen die Elbe-Mulde-Grenze, um die in Jalta festgelegte Grenze am 1. Juli 1945 einzunehmen, die spätere Zonen-, bzw. DDR-Grenze. Wir dachten, es gäbe nun Luft und Ruhe, doch da zog ein sowjetischer Militärstab von 7 Personen zu uns ins Haus und belegte 4 Zimmer. Dieser Stab hatte die Aufgabe, die inzwischen von den Amerikanern ausgelieferten Wlassow-Soldaten abzuurteilen. Die Wlassow-Soldaten hatten sich vor den Sowjets über die Mulde geflüchtet und den Amerikanern ergeben. Sie waren in die Lichtenburg überstellt worden. Der Leiter des bei uns wohnenden Stabes amtierte tagsüber in der Lichtenburg, ein anderer Stab , der im Hause Stephan wohnte, verurteilte nachts. Für uns, die wir den Zweck dieser Tätigkeit erfahren hatten, war die seelische Belastung riesengroß. Den russischen Soldaten, die auf deutscher Seite gekämpft haben, gewährten die Sowjets keinen Pardon. Die Angst wuchs noch vor diesen mächtigen Leuten, als sie sich unseren Vater nachts mit gezogener Pistole zum Verhör holten. Der Grund dazu war folgender:

Die Lichtenburg war von 1940-1945 SS-Hauptzeugamt und SS-Versorgungslager. Dort lagerten Waren für einige Millionen Reichsmark. Beim Rückzug der deutschen Truppen waren auch Waren aus anderen Lagern, wie Lebensmittel, Stoffe, Schuhe u.s.w., gräumt und hierher gebracht worden. In der Zeit, in der sich 95 % der Bevölkerung von Prettin auf dem Treck zwischen Elbe und Mulde befand, haben Prettiner Plünderungen dort vorgenommen. Das Verhör meines Vaters befaßte sich mit unserer Vergangenheit während des 3. Reiches, bis schließlich der wahre Grund meinem Vater erkennbar wurde. Er sollte verraten, wer sich von den Prettinern in Besitz solcher Waren gebracht hatte. Das hatte sich natürlich rumgesprochen. Er erklärte, daß er dazu keine Angaben machen könne, er sei in besagter Zeit nicht im Ort gewesen. Dabei blieb er auch, als man androhte am nächsten Tag Mutti und uns Töchter verhören zu wollen. Der folgende Tag war fürchterlich. Wir hatten Anweisung das Haus nicht zu verlassen, um für das Verhör bereit zu stehen. Als sich bis Mittag nichts dergleichen ereignete, trat meine Mutter in Aktion. Sie klopfte an, als der Stab zu Tische saß und fragte, wann das Verhör beginnen würde. Schließlich hätten wir in der Landwirtschaft viel Arbeit u.s.w. Der Dolmetscher winkte ab: es hätte sich erledigt.

Der Stab blieb 2 bis 3 Wochen. Man hörte, daß die Wlassow-Soldaten nach Torgau gebracht wurden. Dort sollen die geschlossenen Waggons in der Augustsonne noch tagelang auf den Gleisen gestanden haben, so daß die Brühe unten austrat.

1945 wurde der gesamte Herdbuch-Rinderbestand des Hofes durch die Russen weggetrieben. Anfang der fünfziger Jahre war alles wieder aufgebaut.

Dann setzten Repressalien zur Zwangskollektivierung mit großer Intensität ein. Unsere Familie wurde zur Republikflucht getrieben und verließ den Hof für immer.

Als ich nach der Wende zum ersten mal die Gedenkstätte Lichtenburg besuchte und nichts über die Wlassows fand, schrieb ich ins Gästebuch. Ich äußerte meine Verwunderung darüber, daß immer noch darüber geschwiegen wird, was damals vor sich gegangen war.

Wlassow, Andrei Andrejewitsch

Sowjetischer General

14.09.1900 – 01.08.1946

Wlassow geriet 1942 bei Wolochow als Armee-Oberbefehlshaber in deutsche Gefangenschaft. Tief enttäuscht von Stalin organisierte er eine Antistalinbewegung und gründete aus russischen Kriegsgefangenen und Freiwilligen die antistalinistische Befreiungsarmee (Wlassow-Armee) mit 100.000 bis 300.000 Mann. Wegen Adolf Hitlers Weigerung , die staatliche Existenz Rußlands zuzusichern, kam sie erst Ende 1944 mit 2 Divisionen zum Einsatz. Wlassow versuchte kurz vor Kriegsende mit der Unterstützung des Prager Aufstandes einen Frontwechsel, wurde jedoch von den USA mit seinen Truppen 1945 an die Sowjetunion ausgeliefert, und dort hingerichtet. Die Wlassow-Soldaten kamen in den "Archipel Gulag".

"In beiden Jahren 1945 und1946 verarbeitete der Archipel den großen Strom der diesmal echten Gegner der Macht, der Wlassow-Leute und Krasnow-Kosaken." s. "Der Archipel Gulag" S. 50 v. 10. Aufl., 2001 Alexander Solschenizyn.

 

Die Lichtenburg in Prettin

Prettin liegt an der Elbe, ca. 10 km flußabwärts von Torgau.

Das Schloß Lichtenburg wurde von1574-1582 von Kurfürstin Anna von Sachsen erbaut. In der Zeit von 1933-1939 war es Konzentrationslager, dann 1939-1945 Zeugamt der Waffen-SS. Was unmittelbar danach geschah, darüber wird geschwiegen.

 

Siehe auch "Mitteldeutsche Zeitung" vom 08.05.2003 Bereich Jessen S. 12

 

Baldur Windisch, 13.01.2003

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