Eine ungewöhnliche Freundschaft

Wie es begann

Als Jugendlicher träumt man immer von der großen weiten Welt. Jeder möchte gerne viel mehr sehen und erleben als es ihm gerade möglich ist. Durch Literatur wie "Die Kinder des Kapitän Grant" oder "Robinson Crusoe" hatte die See eine besondere Anziehungskraft für mich.

Im Sommer 1967, ich war 13, verbrachten meine Mutter und ich den Sommerurlaub in Boltenhagen. Wir waren somit am westlichsten Ort an der Ostseeküste der damaligen DDR. Gleich hinter unserem Strand in westlicher Richtung begann das Sperrgebiet zur Zonengrenze.

An jedem Tag hatten wir super Wetter und so war man oft am schönen Strand. Dann ging unsere Sonnenmilch zu Ende. Nun stand mir plötzlich eine blaue, flache Plasteflasche zur Verfügung. War sie schwimmfähig? Der Test ergab: Sie war luftdicht. Ich kam auf die Idee, eine Flaschenpost abzusenden. Nachdem ich einen Zettel mit meiner Adresse in die Flasche getan, sie verschlossen und bunt beklebt hatte, wartete ich einen Tag ab, an dem der Wind vom Land her wehte. Dadurch konnte ich per Fuß auch viel weiter in die Ostsee hineinlaufen. Ich schwamm dann noch so weit ich konnte hinaus und überließ meine Flasche der See. Sie wurde gleich weiter nach draußen getragen.

Es wurde September und ich bekam einen Brief aus Lübeck. Eine Klasse der Handelsschule Lübeck war auf einem Ausflug nach Travemünde an den Niendorfer Strand. Einer der Schüler hatte dort die Flasche mit meiner Adresse gefunden.

Stellvertretend für alle, schrieb Helmuth T. mir einen Brief. Er war damals 14 Jahre, sammelte Briefmarken, spielte gern Fußball und hatte sich schon lange einen Brieffreund gewünscht. Unsere Interessen lagen ähnlich. Es begann ein reger Briefwechsel. Einige Schülerinnen und Schüler der Schule in Lübeck aus Helmuth`s Klasse schrieben mir. Es gab die Möglichkeit, Kontakte mit vielen westdeutschen Schülern und Schülerinnen zu knüpfen. Ich sollte ihre Adressen an meine Freunde weitergeben. Meine Mutter warnte mich aber davor, denn das wäre gefährlich. Zu dieser Zeit lief gerade das Auswahlverfahren zum Besuch der Erweiterten Oberschule in Elsterwerda. Da wollte ich unbedingt hin, um das Abitur machen zu können. Sollte ich dieses Ziel für meine Zukunft durch Kontakte zum Klassenfeind aufgeben? Ein Briefwechsel von vielen Jugendlichen zwischen uns und Westdeutschland bliebe nicht lange unentdeckt. Man hätte dann mit Konsequenzen zu rechnen. Es wäre aber eine Chance zum Kennenlernen. Sollte ich dieses Ziel für meine Zukunft auf diese Weise gefährden? Das Risiko war einfach zu groß. An zwei von meinen Kumpels gab ich dennoch Adressen weiter.

Helmuth um 1969

1969 begann Helmut auf meinen Wunsch mir Bilder von Beat-Gruppen aus der Zeitschrift "Bravo" zu schicken. Solche Bilder, von den "Rolling Stones", "Beatles", "Chicago", "Pink Floyd" u. ä. die in der DDR damals verboten waren, hatte fast keiner, außer mir. Helmuth sendete mir viele Briefe mit diesen Postern, aber nur ein Teil kam an. Es blieb aber nicht bei Briefen. Bald schickten wir uns gegenseitig Päckchen. Meine Geschenke waren Bücher der Weltliteratur, die ich auftreiben konnte. Einmal auf besonderen Wunsch Helmuth`s, sandte ich ihm nur widerstrebend ein FDJ-Hemd. Er wollte damit nur provozieren, was ich gar nicht nachvollziehen konnte. Die Reaktion seiner Ausbilder war dementsprechend negativ.

Bei uns galten zu der Zeit in der Schule noch strengere Regeln. Zu bestimmten Anlässen in Zusammenhang mit der Schule wurde uns vorgeschrieben, das Blauhemd zu tragen. Man durfte die Schule nicht mit Jeans betreten, keine langen Haare tragen, die über die Ohren reichten und Beat-Musik war auch verboten. In unserem Musikbuch stand damals der Satz: Die Musik der "Beatles" und "Stones" sind kapitalistische Unkultur – Sie halten die werktätigen Massen vom Klassenkampf ab.

Helmuth schickte mir auf Wunsch eine enganliegende Sonnenbrille, Zigaretten und das Buch "Erinnerungen an die Zukunft" von Erich van Dänicken. Das Buch war ein Volltreffer und ging hier von Hand zu Hand. Darin versucht der Autor nachzuweisen, daß unsere Erde früher Besuch von Außerirdischen hatte, und dadurch viele ungeklärte Phänomene der Vergangenheit und der Götterglaube zu erklären sei. Jeder interessierte sich für dieses Thema. Es gab dann einen westdeutschen Film darüber. Er lief 3 Wochen lang in der DDR bei ausverkauften Kinos und wurde dann abgesetzt, da er nicht in die sozialistische Ideologie passte.

Natürlich wollten wir uns auch mal treffen, am Besten zur Leipziger Messe. Es kam aber nicht dazu. Der Briefwechsel brach ab.

Ich wurde dann auch zur NVA eingezogen. Da war Westkontakt unmöglich.

Während des Studiums 1975 hatte ich noch einmal mit Helmuth Briefwechsel. Er hatte in West-Berlin zu tun und wollte einen Tag in den Osten kommen. Diesmal scheiterte das Ganze, weil ich als Student, kein Geld hatte von Freiberg nach Berlin zu fahren.

1977 heiratete ich Tini und in den nächsten Jahren kamen unsere Kinder Nancy und Steve zu meiner Familie.

Die 1. Fortsetzung

Im Jahr 1987 bekam ich anlässlich des 50. Geburtstages meiner Tante in Landau die Gelegenheit, in den Westen zu reisen. Zur Vorbereitung der Fahrt schrieb ich seit langer Zeit nach Lübeck. Als Absender gab ich die Adresse meiner Mutter an. Die Antwort kam bald, aber aus Hamburg. Helmuth war nach Hamburg gezogen und ich hoffte auf ein Treffen mit ihm in Landau bei meiner Tante. Dort angekommen telefonierte ich mit Helmuth. Aber nun konnte er sich nicht frei machen und es wurde wieder nichts mit einem Treffen. Wir ließen von jetzt an den Kontakt nicht mehr abreißen. Helmuth`s neues Hobby waren Computer. Er schrieb seine Briefe per Computer und nummerierte sie, um einen Nachweis für eventuelle Verluste zu haben. Mittlerweile wurden die Besuchsregelungen zwischen West- und Ostdeutschland gelockert. Es konnten auch Leute auf Einladung in die DDR einreisen, wenn sie nicht mit dem Gastgeber verwand waren. So beantragte ich die Besuchserlaubnis für Helmuth für den Mai 1988. Wir wollten uns in Elsterwerda auf dem Bahnhof treffen und hatten uns bestimmte Bekleidung als Erkennungsmerkmal ausgemacht. Dann kam der lang ersehnte Augenblick. Mit dem Shellparka bekleidet holte ich Helmuth vom Zug ab. Wir erkannten uns sofort. Nach der obligatorischen Begrüßung griff Helmuth in die Hosentasche und zog einen Packen DDR-Geldscheine heraus. "Ich habe 2 Tageslöhne von mir bei uns 1 zu 8 getauscht und das Geld mit über die Grenze gebracht. Finanziell sind wir also abgesichert." meinte er. "Wo ist denn der nächste Intershop?" So ging das mit Helmuth und mir los. Es klappte auf Anhieb. Er war von unserer Familie, den Lebensumständen und unseren Ambitionen sehr angetan. Wir beschlossen eine mehrtägige Reise nach Dresden zu unternehmen. Schließlich mußten die tausend DDR-Märker ja unter die Leute gebracht werden. Zuerst besuchten wir Meißen, um dann in 3 Tagen in Dresden dieses Geld auszugeben. Alles was sich ein DDR-Bürger aus Kostengründen nicht leistete, wurde getestet. Im "Bellevue" wurde zu Mittag gespeist und die letzte Mahlzeit gab es in der Nachtbar. Wieder zu Hause führten wir Helmuth in den "Norddeutschen", wo es ihm auch besonders gefiel. Es trafen sich dort viele unserer Freunde und Bekannten. Die Woche verging wie im Fluge und ich brachte einen guten Kumpel wieder zum Zug.

In der darauffolgenden Zeit startete Helmuth ein einzigartiges Programm. Es war eine richtige Entwicklungshilfe. Er versorgte uns durch Pakete mit alledem, was das Leben leichter macht, aber in der DDR schlecht, sehr teuer oder überhaupt nicht zu bekommen war. Er schickte mir die gewünschten Schallplatten z. B von "Traffic", "Joe Cocker" oder "Eric Burdon". Mein Trabbi bekam über "Genex" ein Autoradio, und es folgte ein Videorecorder. Aber was ist ein Videorecorder ohne Filme? Es kam per Post vieles an: Filme wie "Terminator", "Mutzenbachers" oder "Tanz der Teufel". Im Packet bekam ich einen C64 (Commodore 64 – einer der ersten Heimkomputer) komplett mit Software, Joysteek und Drucker, obwohl die Versendung dieser Geräte verboten war. Unter Helmuths brieflicher Anleitung gelang mir der Einstieg in die Computerbedienung. Seitenweise erklärte er mir per Post die Funktionsweise des Rechners. Die Mikrowelle stellte für Helmuth eine besondere Herausforderung dar. Sie durfte ja nicht schwerer als 10 kg sein. Helmuth fand nach vielem Suchen in einigen Geschäften eine unter diesem Gewicht und schickte sie uns. Für ihn war es ein Gag, für uns im Sozialismus war es etwas sehr Besonderes.

Nach unserem erfolgreichen Einstieg in Dresden trafen wir uns im Februar 1989 in Berlin. Ich holte Helmuth am Bahnhof Friedrichstraße ab. Dort kamen die Besucher aus Westberlin mit dem Zug an, die den Osten besuchen wollten. Sie wurden von vielen Bekannten und Verwandten schon erwartet. Zu diesen Leuten dazu zugehören, war ein eigenartiges Gefühl. Es wurde ja die Grenze der gesellschaftlichen Systeme überschritten. Man sprach nur gedämpft, weil man Mithörer vermutete. Trotzdem fühlte ich mich wie in einer Gemeinschaft mit gleichen Erwartungen. Dann ging das Tor auf und sie kamen. Nach der Begrüßung mit Helmuth suchten wir ein Taxi. Es gab damals in Berlin die höchste Taxidichte der DDR. Überall in der Republik waren Taxis Mangelware. Trotzdem war der Bedarf an individueller motorischer Fortbewegung hier nicht ausreichend gewährleistet. Da bot sich ein Trabi-Fahrer an, uns mitzunehmen. Eine gute Bekannte, die in Berlin studierte wollte uns aufnehmen. Auf der Fahrt zu ihr gab mir Helmuth ein Steckmodul für den C64. Als das unser Chauffeur bemerkte, äußerte er gleich Interesse dafür. Sofort war mir klar, er fuhr uns nicht nur um etwas Geld mit seinem Trabi zu verdienen.

Am Abend wollten wir dann Berlin unsicher machen. Wir fanden ein gutes Lokal zum Abendessen. Beim Verlassen des Restaurants knickte Helmuth mit einem Fuß so unglücklich um, daß er dieses Bein gar nicht mehr belasten konnte. Auf mich gestützt waren wir froh ein Taxi zu erreichen. Wir fuhren in unsere Unterkunft zurück und der Abend war gelaufen. Am nächsten Morgen zogen wir uns nach Bad Liebenwerda zurück.

In Liebenwerda gingen wir gern in den "Norddeutschen". Der SED-Kreischef hatte die Gaststätte in "Swidnik", nach unserer damaligen Partnerstadt in der CSSR umbenennen lassen. Die Unterhaltung war aber schwierig. Helmuth hörte etwas schwer und so mußte man laut mit ihm sprechen. Es war riskant, sich über Themen, wie Politik, Reisen u. ä. laut zu unterhalten, auch wenn Freunde am Tisch waren. Ich beobachtete z. B., wie jemand sich am Nachbartisch so zurücklehnte, um unser Gespräch belauschen zu können. Auf der Toilette versuchte ich Helmuth die Situation klar zu machen, aber er glaubte nicht daran.

Im Sommer 1989 bekam meine Familie über unseren Betrieb " Reiss" die Möglichkeit den Urlaub in Ungarn zu verbringen. An der Grenze zur CSSR wurden wir mit unserem Trabi gründlich gefilzt. Keiner hatte eine Ahnung, daß sich hier schon etwas anbahnte. Wir kamen damit in die Unruhen der Wende hinein. Der Zeltplatz in Ungarn lag ca. 20 km von Budapest entfernt. Ein Tag war für den Besuch von Budapest vorgeplant. Helmuth sandte ein Packet dahin. Ich brauchte es ja nur an einer bestimmten Poststation abzuholen, so seine Vorstellung.

Als wir Budapest besuchten, war es gerade der 16.06.1989. An diesem Tag wurde das Grab des im Juni 1958 von den Sowjets hingerichteten Ministerpräsidenten Ungarns, Imre Nagy, umgebettet. Damit wurde er rehabilitiert. Ungarn trennte sich offiziell von seiner sowjetisch-kommunistischen Vergangenheit.

Im Oktober 1956 hatte Nagy die Führung des ungarischen Volksaufstandes gegen die sowjetische Unterdrückung übernommen. Diese Bewegung wurde durch das blutige Eingreifen der Roten Armee niedergeschlagen.

In den Gaststätten folgten die Ungarn gespannt den Übertragungen im Fernsehen. Es war für uns Ausländer unheimlich. Die Stimmung konnte umkippen.

Ich fand das Postamt und das Packet war geöffnet. Der Inhalt bestand aus Videokassetten, für Tini eine Jeansjacke, Spielzeug für die Kinder u. ä. Sie wollten auch noch Zoll dafür. Ich konnte das Päckchen dort nicht annehmen, obwohl das sehr schmerzlich für mich war. Wie sollte ich es in dieser unsicheren Zeit über zwei Grenzen bringen, ohne meine Familie zu gefährden? Die Beamten sicherten mir die Rücksendung zu. Im Packet hatte Helmuth auch noch Bargeld für uns versteckt. Das hatten selbst die Postmarder nicht mitbekommen und er bekam das Packet zurück.

Die Grenzen wurden dann dort nach Österreich geöffnet und wir sahen die am Abend von DDR-Bürgern aufgebauten Zelte, am nächsten Morgen verlassen. Nach den 2 Wochen Urlaub mußten wir wieder an der Grenze zur DDR alles zur Kontrolle auspacken. Schließlich waren wir dann heilfroh, wieder zu Hause zu sein. Es dauerte nun nur noch ein paar Wochen, bis zur Wende.

Nach der Wende

Für Helmuth, als Postbeamter am Schalter auf dem Hamburger Hauptbahnhof, bedeutete es Überstunden. Er zahlte dort das Begrüßungsgeld für die ostdeutschen Besucher aus und hatte mit einer Belagerung seines Schalters die ganze Nacht durch zu kämpfen. In 14 Stunden hat er über 200.000 DM an Begrüßungsgeld ausgezahlt. Er schrieb: "Es haben sich für mich unvorstellbare Szenen vor meinem Schalter abgespielt. Die Leute hatten Tränen in den Augen umarmten sich gegenseitig und schüttelten mit dem Kopf, weil sie ihr Glück nicht fassen konnten".

Über Weihnachten waren wir nach Hamburg eingeladen. Es war das erste Mal für uns als Familie im Westen. Wir fuhren die ganze Nacht. Hinter dem ehemaligen Grenzkontrollpunkt telefonierte ich mit Helmuth und gab unsere etwaige Ankunftszeit an. Gegen 4.00 Uhr erreichten wir die Straße, in der Helmuth leben sollte. Hier erregten wir schon beim Bäcker an der Ecke mit unserem Trabbi Aufmerksamkeit. Er zeigte uns gerne Helmuths Haustür. Wie wir später erfuhren, wurden ostdeutsche Autos nach der Wende in Hamburg sehr gerne gesehen, besonders Trabbis. Es ereigneten sich Fälle, in denen die Trabis in Nichtparkzonen abgeschleppt werden sollten. Sofort gab es dort einen Personenauflauf. Unter dem Pfeifkonzert der Anwesenden wurde dann das Vorhaben abgebrochen.

Helmuth`s Wohnung war die, wie für einen Junggesellen: für einen Mann und eine Katze. Wir kreuzten aber zu viert auf. So zog Helmuth eine Etage höher. Eine Bekannte, Christiane, überlies ihm ihre Wohnung für die Zeit unseres Besuches. Sie zog derweil zu ihrem Freund.

Es folgten sehr schöne Tage in Hamburg. Die Reeperbahn, Herbertstraße und alles was die Stadt sonst noch an Sehenswürdigkeiten zu bieten hatte: Helmuth zeigte uns alles. Geld spielte dabei keine Rolle. Neue Restaurants, z. T. exotisch, waren für uns immer wieder eine Überraschung. Der Abschied fiel schwer. Unsere Kinder weinten. Die vielen Geschenke passten in unser kleines Auto kaum rein.

Von nun ab besuchte uns Helmuth öfter und ich fuhr auch mal allein, ohne Familie, nach Hamburg.

Im Sommer 1990 sollten die "Stones" in Hannover spielen. Zu dieser Zeit hatten die DDR-Bürger noch einen begrenzten Zugang zur DM. Unser erstes Westgeld gaben wir für den Kauf von Eintrittskarten für das Konzert in Hannover aus. Helmuth und ein Kumpel von ihm holten uns mit einem Audi von Liebenwerda aus ab und es ging nach Hannover. Um Mittag rum waren wir vor Ort. Das Wetter war spitze und Helmuth spendierte uns am schönen Maschsee Mittagessen und Eis. Danach gingen wir zum Stadion. Hier saßen schon einige Stonesfans vor dem Einlass. Wir überlegten kurz und gesellten uns dazu. Als die Tore dann geöffnet wurden, waren wir mit unter den Ersten, die ins Stadion gelangten. So kamen wir mit viel Glück in den gesondert abgesperrten Bereich direkt vor der Bühne. Dort wurde nur eine begrenzte Anzahl von Personen eingelassen und man stand nicht so eng bedrängt beieinander. Nach einer Vorband, es war mittlerweile dunkel, hopste plötzlich Mick Jagger singend und gestikulierend in ca. 20 – 30 Meter Entfernung vor meinen Augen über die Bühne. Da wurde ein Traum für mich wahr. Wer hätte denn gedacht, daß ich einmal die Möglichkeit bekommen würde, ihn wahr zu machen? Die "Rolling Stones" waren neben den "Beatles" für alle DDR-Rockfans die beste Life-Band. Aber was hatte man nicht alles negative über diese Band gehört? Während einem Konzert in Altamont (USA) 1969 wurde ja schließlich ein Mensch, der in Extase auf die Bühne zu kommen versuchte, erschossen (Siehe ggf. bei You-Tube, Rolling Stones, sympathy for the devil, life, Altamont 1969) .

Der Beginn war ein wie Feuerwerk: "start me up". Sofort war die Stimmung super. Und sie spielten dann auch diese alten Songs wie "satisfaktion " oder "honky tonk woman"; die Lieder, die damals für uns verboten waren und denen man schon hundertmal zu Hause am Tonbandgerät sehnsuchtsvoll gelauscht hatte. Es war eine Begeisterung, wie ich sie bis dahin selten erlebt hatte. Zum Schluß stand Mick Jagger ganz oben auf den Bühnenaufbauten. Eingeleitet von einem Percussionsolo kam "sympathy for the devil" - das mystische Ende des Konzertes.

Neben mir drehten sich, überraschend für mich, einige Fans ihre Zigaretten selbst mit der Hand. Danach klärte Helmuth mich auf: Der süßliche Rauch hatte sich auch in seine Kleidung geschlichen.

In der folgenden Zeit organisierte Helmuth Besuche meiner und Tini`s Mutter, da sie ja schon Rentnerinnen waren, unabhängig von einander, einen Besuch in Hamburg. Er gewährte ihnen Unterkunft. Für meine Mutter ermöglichte er sogar einen Ausflug nach Helgoland.

Wir besuchten Helmuth zu seinem 40. Geburtstag 1992? und er war auch bei verschiedenen weiteren Rockkonzerten mit dabei. Ich schleifte ihn zum legendären Fasching der HFV-Uni Dresden und zu anderen Feiern. Immer war Helmuth enttäuscht, wenn die Party nur bis Mitternacht ging und danach schon alle Gaststätten geschlossen hatten.

Irgendwann schlief dann aber unser Kontakt ein. Es war einige Zeit Ruhe.

Hier fehlen ca. 5 Jahre.

Helmuth war ein Jahr lang mit Christiane verheiratet und nach der Scheidung fast völlig abgebrannt.

Die Silvesterfeier zum Jahr 2000 war erstmals auf dem Marktplatz von Liebenwerda und ein besonderer Höhepunkt. Sie wurde durch Privatinitiative organisiert. An der Vorbereitung haben viele Freunde selbstlos mitgeholfen. Ich hatte mit einem Kumpel das zelebrieren des Feuerwerks übernommen. Da kam Helmuth ganz überraschend. Es wurde eine sehr schöne Party.

Bei den Feiern zu unserer Silberhochzeit und meinem 50. war Helmuth immer mit bei uns.

Unser Urlaub auf Island

Helmuth hatte eine ältere Schwester. Sie heiratete nach Island und wurde die Mutter von 3 Jungs. Sie starb aber sehr früh. Irgendwann planten wir einen gemeinsamen Urlaub auf Island.

Die Insel ist ja wegen seiner vulkanischen Tätigkeiten, heißen Quellen, Geysiren und den Gletschern bekannt. Hier kann man den Kampf der Naturgewalten nachvollziehen. Die Erde mit dem heißen Untergrund wird von einem großen Gletscher bedeckt.

Island war ursprünglich nicht bewohnt. Ca. 870 n. Chr. wurde sie von den Wikingern entdeckt und im 10. Jahrhundert von ihnen besiedelt. Um 1000 schloss man sich dem christlichen Glauben an, ohne die heidnischen Gebräuche zu verbieten. So sind dort noch viele Spuren der Vergangenheit der Nordmänner vorhanden. Z. B. tragen Straßen oder andere Orte den Namen von germanischen Göttern. Angesichts meines Vornamens, war das eine positive Überraschung. Es gibt dort keine Berührungsschwierigkeiten mit dem germanischen Ursprung, wie hier.

Direkt vom Flughafen ging es gleich zum Baden in die "Blaue Lagune". Dieser See ca. 20 km von Reykjavik hat eine Wassertemperatur bis 60 ˚C. Das sehr mineralhaltige Wasser ist blau und man fühlt sich wie in einer Badewanne.

Tini, Helmuth, Steini und Sohn vor der "Blauen Lagune"

Alle Neffen von Helmuth haben mittlerweile Familie und wohnen und arbeiten in der Hauptstadt Reykjavik. Sie gehören der Kirche der gläubigen Mormonen der Kirche Jesu der Heiligen der letzten Tage an. Diese Glaubensgemeinschaft hat dort eine eigene Gemeinde und eine Kirche. Ihre familiären Bindungen sind enger als bei uns. Alkohol ist absolut tabu. Nur Pepsi-Kola wird als modernes Partygetränk geduldet.

Steini, der Älteste von Helmuth`s Neffen brachte uns Drei erst einmal bei sich unter. Er war zu unserer Reiseführung verdonnert. Unter seiner kompetenten Leitung erlebten wir in einer 6-tägigen Inselrundfahrt viele Naturerlebnisse, Denkmäler, u. ä. Geysire, Wasserfälle und schlammkochende heiße Quellen. Wir unternahmen eine Kreutzfahrt auf dem von einem abschmelzenden Gletscher gebildeten See, wo man um die abgebrochenen Eisberge herumfuhr. Natürlich besuchten wir auch das Nationalmuseum. Hier wird das Original der "EDDA" ausgestellt. Es sind die Handschriften des Epos des alt-nordischen Glaubens- und Heldenlebens.

Wir haben dort alle Sehenswürdigkeiten der Stadt kennen gelernt und waren auch Gäste im besten Restaurant Reykjaviks hoch über der Stadt, der "Perle". Die Sonne ging in dieser Zeit nicht unter. Sie schien selbst um 1 Uhr nachts noch am Horizont – ein besonderes Naturschauspiel.

 

Die Spuren der Vergangenheit

Gleich nach der Wende stellte ich einen Antrag an die Stasi-Behörde zur Akteneinsicht. Der Grund war das schon immer gespannte Verhältnis mit den Zuständen im Sozialismus und der kommunistischen Bewegung überhaupt. In der Schule, im Studium und dann im Betrieb lebte ich von Lippenbekenntnissen. Ohne SED-Parteimitgliedschaft hatte ich im Beruf die erste Leitungsebene meines Betriebes erreicht. Trotzdem hat man sich in Diskussionen mit Freunden über seine Überzeugungen manchmal zu weit von der gewünschten Meinung entfernt, was von den sozialistischen Wächtern dokumentiert sein konnte. Dann kamen auch die Kontakte mit Helmuth dazu. Die Auskunft war auch nach 3-maliger Nachfrage immer negativ: Es gibt keine Unterlagen über mich. Alle paar Jahre wandte ich mich immer wieder an die Gaug-Behörde.

Im Sommer 2008 fand im Museum von Bad Liebenwerda eine Veranstaltung der Stasi-Behörde statt, in der besonders die Überwachung des Postverkehrs geschildert wurde. Da Helmuth und ich schon immer der Meinung waren, daß nicht alle Post von ihm angekommen war, schrieb ich noch einmal einen Brief an die Stasi-Behörde. Diesmal gab ich auch Helmuths damalige Adresse in Hamburg mit an.

Für mich völlig überraschend kam im Februar 2009 eine Nachricht aus Frankfurt (Oder). Es wurden 2 Karteikarten und ein Mikrofilm über den Briefwechsel zwischen Helmuth und mir gefunden. Diese Verbindung wurde überwacht, obwohl ich als Empfänger der Post die Adresse von meiner Mutter angegeben hatte.

 

hier die Kopie einer der Karteikarten

Sie hatten sogar Helmuths Beruf erkundet. Was die Nummern 210 und 204 bedeuten ist z.Z. nicht deutbar, weil die Vermerke von den verschiedenen Diensteinheiten der MfS nicht einheitlich geführt wurden.

Als Helmuth davon erfuhr, fiel er natürlich aus allen Wolken. Nun wollte er auch einen Antrag auf Akteneinsicht stellen.